. Lassen Sie der Seele Flügel wachsen
Wege aus der Lebensangst

Econ-Verlag, 304 Seiten

Leseprobe

Lassen Sie der Seele Flügel wachsen
Econ-Verlag, Seite 228 bis 234

Welche Meditation ist gemeint?

Auf dem praktischen Weg in die psychische Freiheit liegen viele äußere und innerseelische Hindernisse, die ich vor allem im ersten Teil und in meinem Buch »Lassen Sie sich nichts gefallen« darstellte. Um diese Hindernisse zu überwinden, ist erforderlich, dass der einzelne bereit ist, sich mit sich selbst zu konfrontieren und seine Psyche zu betrachten, also von der Fassadenschicht zur mittleren Schicht und zur Kernschicht (zur innersten Schicht des Selbst) vorzustoßen.

Der Weg zur Kernschicht ist der Weg zur Freiheit und Individualität. Dieser Weg heißt Meditation und Kontemplation. Welche Meditation ist gemeint? Eine Meditation, die nicht schwierig zu erlernen ist. Sie benötigen keinen Lehrer oder Guru, der Ihnen ein »Mantra« gibt oder der Ihnen komplizierte Körperstellungen beibringt, in denen sie dies oder das zu denken, anzuschauen oder in Gedanken zu wiederholen haben. Übungen dieser Art sind interessant und haben sicherlich ihre Berechtigung, aber sie sind nicht der Weg zur Freiheit und Selbstfindung.

Was ich unter Meditation verstehe, kann jeder sofort realisieren, wenn er nur will. Und obwohl es so einfach ist, so ist es doch sehr schwierig, schwierig im Sinne von »es fällt mir nicht leicht«.

Sie sind an keine Regeln oder Tageszeiten gebunden, Sie können sitzen, liegen oder gehen. Sie sind an keinen Ort gebunden, Sie können zu Hause, in der Natur sein oder sich in einem Bus oder Flugzeug befinden. Sie sind an keine Zeit gebunden, Sie können nachts vor dem Einschlafen oder am Tage zu jeder Tageszeit meditieren. Sie sind an keine Stimmungen gebunden, Sie müssen dabei kein Bild betrachten, aber Sie können es, Sie müssen keine Musik hören, aber Sie können es selbstverständlich, wenn Sie Musik mögen. Sie müssen nicht auf einer Wiese sitzen oder den fernen Wald rauschen hören, aber Sie können es, wenn Sie wollen. Sie können sogar in einer Diskothek unter vielen Leuten meditieren, während Sie Ihr Bier trinken. Es gibt also keine Vorschriften und Regeln für die Meditation, denn sie ist zu jeder Zeit möglich, ob Sie alleine sind oder viele Menschen um sich haben.

Die Meditation, von der ich spreche, ist schwer mit Worten zu beschreiben, ohne Missverständnisse zu erzeugen. Meditation ist Hinschauen auf die eigenen Gefühle und seelischen Regungen - nicht nur auf die angenehmen Gefühle, sondern auch auf die unangenehmen wie Neid, Angst, Eifersucht, Verzweiflung, Trauer, Aggression. Das Hinschauen muss aufmerksam und ernsthaft sein, kontemplativ, nicht hastig. Es ist Ruhe, Gelassenheit, Zeit und Geduld dafür erforderlich.

Wenn Sie die Meditation und Kontemplation praktisch anwenden, wirklich ernsthaft und intensiv, sooft Sie können, stellen Sie fest, dass Sie freier werden, dass Sie mehr Energie in sich spüren, dass Ihnen ein Schleier von den Augen weicht, dass Ihr Blick wacher wird, dass Sie lockerer und flexibler werden, und die Angst verschwindet.
Natürlich hat es wenig Effekt, nur ein bisschen zu meditieren, am Anfang der Woche und dann nicht mehr. Wenn Sie jedoch jeden Tag meditieren, sich mehr und mehr Ihrer Person aussetzen und hingeben, werden Sie in einen Zustand kommen, in dem Sie nicht mehr suchen, sondern finden. Was Ihnen bisher schwierig vorkam, ist auf einmal einfach, weil Sie mehr Klarheit gefunden haben. Sie können plötzlich sich selbst und die Umwelt wieder lieben, denn Sie sind wieder mit sich selbst und der Umwelt konkret verbunden. Sie sehen nicht mehr nur Vorurteile und Bilder oder abstrakte Begriffe, sondern die Wirklichkeit.

Meditation ist also keine von der Umwelt abgewandte, nur nach innen gerichtete Technik, bei der Sie sich in Ihr »Schneckenhaus« oder in einen »elfenbeinernen Turm« Ihrer Träume zurückziehen. Vergessen Sie alles, was Sie bisher über Meditation gehört oder gelesen haben, und versuchen Sie, an sich selbst zu erfahren, wovon ich hier und jetzt an dieser Stelle schreibe.

Diese Meditation hat nichts mit östlichen, indischen oder asiatischen Weisheiten, Techniken oder Philosophien zu tun. Die Meditation, die ich meine, ist selbstverständlich auch keine Religion, sie dient nicht dazu, dem Kosmos oder Gott näher zu kommen, sondern einzig und allein dazu, sich selbst und damit auch gleichzeitig der Umwelt näher zu kommen. Hierin liegt nichts Fremdes für Europäer oder hochzivilisierte Menschen. Diese Meditation ist für Menschen aller Kulturstufen und aller Altersschichten ein Weg der Seinserfahrung und des Lebendigseins. Stören Sie sich also nicht an dem Wort »Meditation«, das durch die »transzendentale Meditation« und obskure Heilslehren vielleicht für den einen oder anderen einen unangenehmen Beigeschmack hat, denn damit hat die hier gemeinte Meditation nichts zu tun.

Statt Meditation können Sie auch »Hinschauen« oder »Kontemplation« sagen. Dieses Hinschauen ist ein einfaches, aufmerksames, stilles Betrachten dessen, was im Augenblick in Ihnen und um Sie herum vorgeht. Aber nicht nur kurz hinschauen und dann schnell wieder wegschauen, wie wir es im Alltag bisher machen, wenn wir Angst empfinden und vor der Angst fliehen, wenn wir außer uns sind, statt in uns zu sein, wenn wir nach vorn und hinten fliehen - wie beschrieben -, um uns der Wirklichkeit nicht zu stellen.

Meditation ist ein Vorgang des sich Stellens, sie ist ein Vorgang der Aktion, nicht der Passivität oder der Schläfrigkeit. Wer aufmerksam hinschaut, ist nicht schläfrig oder passiv, sondern hellwach. Je intensiver er hinschaut, auf sich selbst, die Gefühle und Gedanken, auf die Umwelt, die Menschen, desto wacher wird er, sofern er sich nicht sperrt und blockiert. Wenn Sie sich blockieren, verbrauchen Sie übermäßig viel Energie, und Sie werden rasch müde, Sie suchen dann ablenkende Reize, um wieder wach zu werden; das ist jedoch die Ausrede der Abwehr.

Das mutige und intensive Hinschauen führt Sie zu sich selbst, zu Ihrem wahren Selbst, hinter die Fassade, die Sie vor sich selbst und den anderen aufbauen aus Angst vor der Wirklichkeit und Lebendigkeit. In der Meditation erfahren Sie Ihre Lebendigkeit viel direkter als durch die üblichen Amüsements, die uns den Eindruck vermitteln sollen, dass wir leben. Erst aus der Meditation heraus nehmen Sie Ihr Leben und das Leben, das Sie umgibt, wirklich wahr. Wer bewusst hinschaut, weiß, was in ihm vorgeht, er sieht sich selbst klarer und die Mitmenschen viel direkter. Er erkennt plötzlich, was ein anderer wirklich sagt, was er damit meint, was er mit den Fassadenbegriffen, die er verwendet, wirklich sagen möchte, was hinter seinen Worten und Verhaltensweisen steht. Dazu müssen Sie nicht Psychologie studieren, denn das Verhalten und die Absichten der Mitmenschen werden Ihnen in der Meditation ohne Umwege über Fachbegriffe direkt klar. Die Meditation sensibilisiert die Erkenntnisfähigkeit Ihrer gesamten Person (Körper, Seele, Geist), dann müssen Sie nicht mehr lange über einen Satz oder eine Verhaltensweise diskutieren, denn in der Meditation wird Ihnen die Bedeutung spontan klar und Sie stellen sich von selbst richtig darauf ein. Durch die Meditation werden Sie klarsichtig, und Sie verhalten sich sicherer als zuvor, als Sie Unsicherheit und verwirrende Unklarheit empfunden haben.

Je tiefer Sie in die Meditation vordringen, also zu sich selbst finden, umso mehr weicht die innere Verwirrung und Angst von Ihnen. Sie sehen plötzlich ganz deutlich, dass Sie Ihre Frau nicht liebt, um ein willkürliches, aber existentiell erschütterndes Beispiel herauszugreifen, und Sie fühlen sich in Ihrer Partner-schaft in diesem Aspekt nicht mehr verwirrt und unsicher. Natürlich ist dieses Sehen der Lieblosigkeit nicht angenehm, Sie fallen aus den Illusionen in die harte Wirklichkeit, aber Sie stehen dann mit beiden Beinen in der Wirklichkeit, Sie erkennen, was um Sie herum vorgeht, spontan und klar, ohne genau beschreiben zu können, warum es so ist, aber Sie wissen plötzlich genau, dass es so ist. Und darin liegt absolute Freiheit und Überwindung von Angst und Unsicherheit.

Die Wirklichkeit, das Hier und Jetzt, also die Gegenwart, zu sehen, das gibt Ihnen die Möglichkeit, zunächst einmal wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Wenn Sie diesen festen Boden spüren, dann können Sie mit beiden Beinen auftreten, und Sie fühlen sich sicherer.

Wahrscheinlich werden viele Leser, die dieses letzte Kapitel interessiert gelesen haben, insgeheim denken: Schöne, bedeutungsvolle Worte, aber das klingt alles ein bisschen unwahrscheinlich und komisch. Ich bin jetzt 30 oder 40 Jahre alt und soll erst durch die Meditation erfahren, wer ich bin, was Wirklichkeit ist und wie ich mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität stehe, das glaube ich nicht, das ist Spinnerei. - Gut, wer so denkt, hat eben nur die Worte gelesen und die Meditation nicht ausprobiert und an sich selbst erfahren. Wer die Meditation nach eigenem Erleben kennt, der weiß, wovon ich rede, und er hat erlebt, dass es so ist.

Um von der distanzierten Position des Lesens und vom Aufnehmen nur über den Intellekt herunterzukommen, ist es erforderlich, dass Sie das Wagnis der Meditation wirklich auf sich nehmen und intensiv auf Ihre Gefühle - wie schon mehrfach beschrieben - hinschauen. Solange Sie das nicht ernsthaft unternehmen, weil Sie angeblich keine Zeit haben, etwas Wichtigeres vorhaben, oder weil Sie das alles für Blödsinn halten, können Sie nicht wirklich wissen und erleben, was es heißt, aus den Illusionen herauszutreten und in den Bereich der Wirklichkeit, des Hier und Jetzt, der Tatsachen Ihrer wahren Gefühle und Ihrer Situation hineinzugehen. Solange Sie das nicht unternehmen, können Sie noch so viel über Freiheit und Angstüberwindung lesen, reden oder philosophieren, Sie kommen dadurch der Freiheit keinen Schritt näher, denn Sie bewegen sich in einem abstrakten Raum der Begriffe, nicht in der Wirklichkeit des Seins und Ihres Selbst.

Sie können sämtliche Werke von Sigmund Freud, Alfred Adler und Carl Gustav Jung lesen und intellektuell konzentriert abspeichern, und Sie sind Ihrer psychischen Freiheit dadurch nicht näher gekommen, denn Sie bewegen sich in der Dimension der Begriffe und des Denkens. Wenn Sie jedoch Freud »nur« als Anreger oder Impulsgeber zur Meditation lesen, dann müssen Sie nicht alles genau verstehen, das ist dann nicht so wichtig, denn Sie werden angeregt, sich selbst zu betrachten und dadurch kommen Sie weiter, das heißt der Wirklichkeit Ihrer persönlichen Existenz näher.

Deshalb wünsche ich mir einen Leser, der meine Worte nicht nur dazu benutzt, Wissen zu sammeln, sondern der sich anregen lässt, sich genauer und intensiver zu betrachten, also ein Leser, der abschweift, der nicht nur konzentriert liest, sondern Gedanken in das Buch schreibt, Unterstreichungen macht, Ideen an den Rand schreibt oder das Buch zur Seite legt und sich seinen in ihm aufsteigenden Empfindungen überlässt, für Minuten oder Stunden. Dieser Leser gelangt eher in die Freiheit als der Leser, der gewissenhaft und perfektionistisch Satz für Satz in seinem Gehirn als abstrakten Wissensstoff abspeichert.

Ich habe mich oft gefragt, ob es überhaupt der richtige Weg ist, dass ich über diese Thematik ein Buch schreibe. Aber ein Vortrag oder eine Fernsehsendung enthält dieselbe Problematik: dass ich etwas mit Begriffen vermittle und der Zuhörer sich unter Umständen an die Begriffe klammert, ohne selbst aktiv zu werden.

Man hat mir geraten, einen Roman zu schreiben, in dem diese Problematik bildhaft und beispielhaft dargestellt wird. Aber ich habe mich dann doch für die Form des Sachbuches entschieden, weil mir diese Form der Darstellung näher liegt als die Romanform. Einer Vortragsreihe oder Fernsehsendung ziehe ich die Buchform vor, weil der Leser hier die Möglichkeit hat, immer wieder hineinzuschauen und damit zu arbeiten. Er ist nicht gezwungen, zu einer bestimmten Uhrzeit eine vorgegebene Abfolge zu konsumieren, sondern er kann nach seinen individuellen Empfindungen vorgehen, sich meine Sätze vornehmen oder sie wieder weglegen, wann er es für richtig hält. Während des Vortrags oder der Fernsehsendung kann er nicht wieder anknüpfen, wenn er einmal abschaltet und meditieren will, denn dann fehlt ihm ein Teil, den er nicht mehr ergänzen kann.

Nach dieser kleinen Abschweifung über die begrenzten Möglichkeiten der Vermittlung nun noch einmal zurück zur Meditation. Ich kann meinen Lesern versichern: Wer nicht meditiert, wer den Schritt von der begrifflichen zur lebendigen, praktischen Verarbeitung, zum Hinschauen auf sich selbst und die Umwelt nicht schafft, der kann von diesem Buch nichts, außer vielleicht Diskussionsstoff, profitieren, denn er kommt nicht heraus aus seinen Problemen und seiner Angst, er gelangt nicht in die Freiheit. Nur die praktizierte Meditation ist die Lösung des Problems, denn sie ermöglicht das sich der individuellen Situation Aussetzen, sie ist der Einstieg, das sich Einlassen mit der eigenen Person, mit der ganz persönlichen Angst, mit meinem Egoismus, meinem Neid, meiner Aggression, meiner Freude, meiner Liebe, meiner persönlichen Lieblosigkeit und Frustration. Ich selbst muss hinschauen, nicht irgendein anderer; kein Psychologe, Psychotherapeut, Anthropologe, Philosoph kann stellvertretend für mich hinschauen.