. Selbstbewußtsein
Sensibel bleiben, selbstsicher werden
Econ Verlag, 184 Seiten

Leseprobe

Selbstbewußtsein
Econ-Verlag, Seite 27 bis 31

Angst vor anderen Menschen

Die Fremdeinschätzung hat Ihnen gezeigt, ob Sie das Urteil Ihrer Mitmenschen fürchten. Diese Furcht entsteht, weil Sie glauben, eine negative Eigenschaft zu besitzen, die niemand entdecken soll. Sie entsteht auch, weil Sie einfach nicht damit fertig werden, nicht so gut beurteilt worden zu sein, wie Sie selbst gerne sein wollen. Das übergroße Wunschbild (aus Unsicherheit) wird eventuell zerstört. Vor dieser Erkenntnis steckt man gerne den Kopf in den Sand.

Weitreichende Folgen hat die Angst vor Mitmenschen, die als Autoritäten gelten. Diese Angst und die damit verknüpfte Selbstunsicherheit wird von den meisten als sehr unangenehm und störend erlebt. Wenige Menschen sind davon ganz frei. Der Grund für diese Tatsache ist die »autoritäre« Erziehung und die entsprechenden prägenden Erfahrungen in der Kindheit.

Ein Beispiel für die Autoritätsangst: Herr Meiners verliert stets sein Selbstbewusstsein, sobald er zu seinem Chef gerufen oder in einer Konferenz von seinem Chef angesprochen wird. Gegenüber seinen Kollegen tritt Herr Meiners durchaus selbstsicher auf, doch sobald der Chef auftaucht, bekommt er leichte Magenschmerzen, werden seine Handflächen feucht.

Herr Meiners hat diese Unsicherheit zum Glück nicht bei anderen Autoritäten, wie beispielsweise bei Chefs anderer Firmen, mit denen er manchmal verhandeln muss. Für die Autoritätsangst Herrn Meiners gibt es eine Erklärung, die ihm selbst nicht bewusst ist.

Herr Meiners hatte in seiner Schulzeit einen Mathematiklehrer, der seinem Chef äußerlich ähnlich sah. Die Ähnlichkeit war jedoch nicht so stark, als dass sie Herrn Meiners direkt ins Auge sprang. Der Mathematiklehrer konnte den Schüler Meiners nicht leiden. Er benutzte seine Autorität, um ihn lächerlich zu machen. Der Schüler Meiners hatte schließlich solche Angst vor den Mathematikstunden, dass er an den Händen schwitzte, Magenschmerzen bekam und manchmal sogar die Stunden schwänzte. Im Zeugnis hatte der Schüler Meiners in Mathematik bei diesem Lehrer stets eine Fünf.

Den ehemaligen Lehrer hat Herr Meiners längst vergessen, aber in der Tiefe seiner Psyche sind die damaligen seelischen Verletzungen noch gespeichert. Sobald er einer Autorität begegnet, die äußerlich dem ehemaligen Lehrer etwas gleicht, projiziert Herr Meiners unbewusst die Eigenschaften des Lehrers in diese Person - und es melden sich Angstsymptome.

Die Angst von Herrn Meiners war leicht aufzuklären. Es gibt jedoch viele Menschen, die nicht nur vor einem Autoritätstyp unsicher und ängstlich werden, sondern generell bei der Begegnung mit Autoritäten. Das ist der Fall, wenn jemand in seiner Kindheit und Jugend grundsätzlich von Autoritäten enttäuscht wurde, vom Vater, von Lehrern, von Polizisten, Lehrherrn und Chefs. Die generelle Angst vor Autoritäten ist natürlich viel schwerer zu heilen als die Angst vor einem speziellen Personentyp. Es gibt aber nicht nur die Angst vor Autoritäten, sondern auch die Angst vor bestimmten Menschentypen. Ein Beispiel: Frau Ahlborn hatte in ihrer Jugend eine rothaarige Freundin, die ziemlich dick war. Von dieser Freundin wurde sie mehrmals sehr enttäuscht und bei einem Streit sogar geschlagen.

Eines Tages bekam Frau Ahlborn eine neue Kollegin - sie war rothaarig und ziemlich dick. Die Kollegin sah also der ehemaligen Freundin ähnlich. Was jetzt passierte, können Sie sich sicher denken. Frau Ahlborn verkrampfte sich jedes Mal, wenn sie der Kollegin auf dem Flur begegnete, und schwitzte am ganzen Körper. Sie konnte zu der Kollegin keine selbstsichere, natürliche Beziehung aufnehmen, sondern vermied jedes Gespräch. Zu ihren anderen Kolleginnen sagte sie: »Die ist mir wahnsinnig unsympathisch.«

Und nun zu einer anderen Angst. Wer selbst nicht selbstbewusst ist, hat Angst vor dem Selbstbewusstsein anderer. Der Unsichere möchte aus seiner Unsicherheit herausfinden und umgibt sich deshalb gerne mit noch unsichereren Menschen: Selbstbewusste versucht er zu meiden, weil sie ihm mit ihrer Sicherheit Angst einjagen. In ihrer Gegenwart wird er sich seiner Unsicherheit besonders bewusst, und davor hat er Angst.

Ein Beispiel für diese Angstreaktion und ihre Folgen: Die Ehepaare Müller und Reinek sind seit vier Jahren befreundet. Beide Ehepaare führen eine unglückliche Ehe, worüber auch manchmal diskutiert wurde. Das Ehepaar Reinek trennt sich, weil Herr Reinek eine Geliebte hat. Frau Müller hält zu Frau Reinek. Herr Reinek erzählt Herrn und Frau Müller von seiner Geliebten. Er schwärmt natürlich von ihr und möchte mit den Müllers einen Termin vereinbaren, um seine Geliebte vorzustellen.
Was passiert jetzt? Normalerweise müsste man annehmen, dass die Müllers mit kritischer Spannung die Vorstellung der Geliebten erwarten. Aber es kommt anders, weil Frau Müller als Ehefrau sehr unsicher ist. Sie sagt Herrn Reinek, sie wolle die Geliebte nicht sehen, auch auf die Gefahr hin, dass dann die Freundschaft zu Herrn Müller zerbricht.

Die Angst vor einer Frau, die es geschafft hat, die Reinek-Ehe zu trennen, war zu groß. Es meldete sich Frau Müllers Angst vor der Begegnung mit einer nach ihrer Empfindung starken Frau. Sie wollte diese Frau nicht kennenlernen. Herr Reinek war darüber sehr enttäuscht und zog sich deswegen von dem ehemals befreundeten Ehepaar zurück.

Der Unsichere hat also Angst vor der Selbstsicherheit der Mitmenschen. Aber er hat auch Angst vor den »eigenen« Eigenschaften in seinen Mitmenschen. Eigenschaften und Einstellungen, die man in sich selbst entdeckt, werden auch bei den Mitmenschen vermutet.

Ein Beispiel: Herr Sommer ist ein Intrigant. Er spielt seine Kollegen gegenseitig aus, um sich dadurch Vorteile zu verschaffen. Da er stets nach Möglichkeiten der Intrige Ausschau hält, vermutet er, dass seine Kollegen - genauso wie er selbst - intrigieren. Er kann sich nicht vorstellen, dass die anderen nicht an Intrige denken. Aus diesem Grund hat Herr Sommer natürlich ständig Angst vor den Intrigen seiner Kollegen.

Das gilt auch für andere Eigenschaften. Wer selbst lügt, glaubt auch, dass er von anderen belogen wird. Wer seine Frau betrügt, ist rasend eifersüchtig, weil er glaubt, dass auch seine Frau ihn betrügt. Eigene Vorstellungen und Verhaltensweisen werden in andere Menschen projiziert. Das Unrecht, das man anderen tut, fällt auf einen selbst zurück: Es erzeugt die Angst, andere könnten einem noch mehr Unrecht zufügen.

Wer sich dagegen sozial und hilfsbereit verhält, fürchtet weniger das asoziale Verhalten seiner Mitmenschen; er fühlt sich sicherer, geborgener und angstfreier. Demnach ist das die richtige Basis für eine gute Selbstsicherheit.