Lebenskunst
Wege zur inneren Freiheit

Econ-Verlag, 320 Seiten
 

Leseprobe

Lebenskunst
Econ-Verlag, Seite 9-15

Wege zur inneren Freiheit

1. Hindernisse der Selbstentfaltung

"Kann ein Mensch in einem langen Prozeß erleben, daß er nie als das Kind, das er war, sondern für seine Leistungen, Erfolge und Qualitäten "geliebt" worden ist, daß er seine Kindheit für diese "Liebe" geopfert hat, so wird ihn das zu großen inneren Erschütterungen führen, aber er wird eines Tages den Wunsch verspüren, mit dieser Werbung aufzuhören. Er wird in sich das Bedürfnis entdecken, sein wahres Selbst zu leben und sich nicht länger Liebe verdienen zu müssen, eine Liebe, die ihn im Grunde doch mit leeren Händen zurückläßt, weil sie dem falschen Selbst gilt, das er aufzugeben begonnen hat."
Alice Miller

Der Mensch wird mit wenigen vorprogrammierten Instinkten in die Welt hineingeboren, mit der in der Natur höchsten Möglichkeit, sich zu entwickeln. Der Mensch kommt als ein fast leeres Gefäß zur Welt, in das nach und nach Inhalte hineingegossen werden. Diese Inhalte sind Verhaltensregeln, Normen, religiöse und moralische Erfahrungen, Informationen, gegeben von den verschiedensten Seiten und Interessengruppen, zuerst von den Eltern, dann von Lehrern, Lehrherren, Professoren, Freunden, von Liebes- oder Ehepartnern, von privaten oder beruflichen Ratgebern aller Art. Das Gefäß wird voller und voller, bis es schließlich so voll erscheint, daß das Individuum es ablehnt, noch weitere Informationen aufzunehmen und sich mit den alten Inhalten begnügt.

Im Gespräch sagte mir jemand zum Thema Partnerschaft und persönliche Freiheit: "Das Thema habe ich ausdiskutiert." Eine weitere Bereitschaft zur Diskussion bestand nicht mehr. Die eigene Meinung war gefestigt, für weitere Informationen schien kein Platz mehr zu sein.

Ein anderer Gesprächspartner meinte einmal: "Ich habe keine Lust, mich über diese Thema zu unterhalten, denn ich habe ja doch meine eigene Meinung." Eine junge Frau erzählte mir in der Praxis, daß sie ihren Ehemann gebeten hätte, mein Buch "Die Liebe" zu lesen, worauf er ihr geantwortet hätte: "Ich habe meine eigene Auffassung von der Liebe, da brauch´ ich kein Buch, das interessiert mich nicht." Das sind Beispiele dafür, daß das Bedürfnis nach weiteren Informationen mit zunehmendem Alter oft abnimmt.

Die Gefäßmetapher ist materialistisch, alle Materie hat einen Anfang und ein Ende. Ist das Bild vom Gefäß wirklich auf den Menschen, seine Seele und seinen Geist übertragbar? Nicht ganz - denn ich stelle mir dieses Gefäß mit unendlichem Fassungsvermögen vor. Die Aufnahmefähigkeit des Menschen ist unbegrenzt, ein Thema ist nur dann erschöpft, wenn ich es so will; es bleibt ewig jung und lebendig, wenn ich dafür offen bin. Indische Gurus gebrauchen das Bild von der gefüllten Schale, wenn Suchende zu ihnen kommen, um sich Lebensweisheit vermitteln zu lassen, sie sagen "erst muß dein Gehirn leer werden, damit du frei bist für den neuen Inhalt."

Kann die Schale wirklich einfach ausgegossen werden? Das menschliche Gedächtnis speichert alle Inhalte als elektrochemische Engramme, wie die Gehirnforscher sagen, sie können nur mit chemischen Mitteln oder operativ zerstört werden. Die Gehirninhalte können also nicht einfach ausgeschüttet werden; wir können sie jederzeit hervorholen und sie uns von allen Seiten betrachten. Jeder Inhalt hat viele Seiten und steht in einem Sinnzusammenhang, der veränderlich ist, der je nach Lust und Laune wechselt.

Wer in die psychologische Beratungspraxis kommt, weiß nicht mehr, was richtig und falsch ist; er hat in Frage gestellt, was andere Menschen von ihm erwarten, was er selbst von sich erwarten kann, wer er ist, worin der Sinn seines Lebens, seiner Partnerschaft und seines Berufes besteht. Die alten Inhalte beginnen in ihrer Bedeutung und ihrer Wertigkeit zu schillern. Was bisher klar und sicher war, wird brüchig und unsicher. Was bisher "richtig" erschien, wird fragwürdig, wenn nicht gar falsch. Die Diskussion ist nicht beendet, sondern sie wird plötzlich wieder aktuell. Ich weiß nicht mehr, was Liebe ist, es ist mir unklar, ob ich meinen Partner liebe und ob er mich wirklich liebt. Das scheinbar so geschlossene System hat durch eine seelische Erschütterung plötzlich Risse bekommen. Die scheinbar endgültig geklärten Tatsachen beginnen sich zu verändern, ein anderes Licht scheint auf sie, und in diesem Licht erscheinen sie anders, neu, verändert, nicht mehr greifbar, sie schrumpfen zusammen oder sie beginnen zu wachsen.

Was bisher eine unwichtige Bagatelle war, wird plötzlich sehr bedeutsam; wonach ich bisher gestrebt habe, verliert an Sinn und Attraktivität. Was ist richtig und falsch? Der Freund wird zum Feind, die Geliebte zur Hure, der Seelsorger zum Betrüger, der Lehrer zum Hanswurst, der Friedensapostel zum Gewalttäter, der bescheidene Samariter zum geltungssüchtigen Menschenverächter und so fort. Die Inhalte in meinem Gefäß sind nichts Statisches, sie beginnen plötzlich zu leben. Keiner kann mich dazu auffordern, daß es geschieht. Das Leben selbst führt durch Ereignisse diese Erschütterung herbei. Es gibt zwei Arten, hierauf zu reagieren: Entweder klammert man sich um so fester und beharrlicher an die alten Bedeutungen und wird dadurch starrer, verfestigter, unbeirrbarer und verkalkter im alten Schema, oder man wirft sich offen dem Neuen entgegen.

Die meisten Menschen reagieren erfahrungsgemäß mit der ersten Reaktionsweise. Sie verschließen sich, kapseln sich ein, halten an den alten Interpretationen und Werten fest und wiegen sich so in dem Gefühl von Sicherheit. Sie sind dann das Zentrum von Sicherheit und Ordnung, und draußen braust das Chaos - sie halten dem Chaos stand, indem sie Jahr um Jahr neue Kalkschichten bilden, um den Stürmen des Lebens mit einer Schutzschicht zu trotzen. Sie erscheinen stabil und lebenstüchtig, sie hüten die Wahrheit, ihre Wahrheit, wie einen Schatz, bis zu dem Tag, an dem die große Woge eines schicksalhaften Ereignisses alles überrennt.

Wer sich dem Neuen stellt, wer unsicher ist, alles in Frage stellt, die Inhalte um - und umdreht, sich die neuen Seiten betrachtet, dem Licht des lebendigen Lebens Zutritt verschafft, für den ist kein Thema zu Ende diskutiert, er ist wirklich offen, und er läßt das Chaos in sich eindringen, ja, er liefert sich dem Chaos aus; er stellt sich nicht verkalkt dagegen, um daran zu zerbrechen, sondern er macht die Türen und Fenster seiner Seele weit auf, damit der Wind durchwehen kann - er ist transparent. Eine verkalkte, starre Pflanze wird vom Sturm abgebrochen, das filigrane Gras dagegen wird nur zu Boden gedrückt und richtet sich danach wieder frisch und vital auf.

Geist und Seele des Menschen sind zwar gebunden an Materie, aber sie gehen über die Materie hinaus, sie sind unerschöpfbar, unausmeßbar, unausfüllbar, sie sind das eigentlich Lebendige. Materie ist unschöpferisch, sie ist begrenzt, Geist und Seele dagegen, als Einheit betrachtet, sind schöpferisch, kreativ und unbegrenzt. Die Diskussion hört nicht auf, der Prozeß des Wachstums ist nie abgeschlossen, deshalb kann in einem alten Körper ein junger Geist lebendig sein. Der Körper mag sterben und mit ihm der geistige Prozeß, der ja an die Materie gebunden ist, das ist aber kein Beweis dafür, daß der Geist und die Seele altern. Geist und Seele können jung bleiben bis zum Tod. Wenn der Körper stirbt, die Materie sich umwandelt, dann sind Geist und Seele hiervon unberührt, weil sie ein Teil des Ewigen sind. Während die Materie altert, altert die schöpferische Seele nicht zwangsläufig mit.

Die Griechen waren der Ansicht, daß in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt, aber anders formuliert ist es richtiger: Ein gesunder (lebendiger) Geist schafft erst die Voraussetzungen für einen gesunden Körper. Ein alternder Körper muß nicht krank sein; Die Materie verschleißt zwar, aber der lebendige Geist niemals. Die lebendige Seele ist keinem Sterbevorgang unterworfen, sie kann jung bleiben, hierin liegt das Mysterium des Glaubens an ein ewiges Leben der Seele nach dem Tod des Körpers. Wir mögen uns diesem Glauben anschließen oder auch nicht, das ist unwichtig: Entscheidend ist die Erkenntnis, daß Geist und Seele während eines Menschenlebens nicht altern müssen. Seelisches Altern verursachen wir selbst, es ist keine unabänderliche Tatsache wie der Alterungsprozeß der biologischen Verhältnisse.